Dezember. Starker Wind. Schneeregen. Temperaturen um den Gefrierpunkt.
Mit mulmigem Gefühl drücke ich den Klingelknopf. Stille, keine Schritte hinter der Tür. Zwei Minuten vergehen. Ich meine, ein undefinierbares Geräusch aus dem Haus gehört zu haben, lausche nach … wieder nichts.
Gedanken gehen mir durch den Kopf: Ist er zu schwach zum Aufstehen? Ist er nicht da? Ist er vielleicht schon gestorben und niemand hat mich informiert? Ich beschließe, nicht noch einmal zu klingeln, weil ich erahne, dass Luftnot keinen weiteren Druck verträgt. Ich rufe an. Er japst in mein Ohr: „Haben Sie mich nicht rufen hören? Ich bin unterwegs zur Tür, brauche noch etwas!“
Kurz danach öffnet sich die Tür. Zögerlich trete ich in den Flur, schaue nach links und sehe ihn. Er liegt auf dem Bett, stöhnt, ringt nach Luft, reagiert auf mein „Hallo“ mit einem kurzen Winken.
Dünne Plastikschläuche, der eine grün, der andere durchsichtig, führen von je einem silbrig glänzenden Gasgerät am Bett und im Wohnzimmer zu seinem Körper, hinauf zu den Ohren und von dort zu Mund und Nase. Nach einigen Minuten ruft er mir zu, das Gasgerät im Wohnzimmer auf 15l zu drehen, ich drehe. Die Sauerstoffmenge wirkt und er bittet mich, ihn mit dem Toilettenstuhl ins Wohnzimmer zu fahren, einen Rollstuhl gibt es nicht.
Im Wohnzimmer angekommen, wuchtet er sich irgendwie auf sein Sofa. Weiteres Atemringen, Husten, Stöhnen. Ich setze mich, warte, versuche, Ruhe auszustrahlen, er wird ruhiger, fragt schließlich, ob ich für uns einen Tee kochen möchte.
Später sitzen wir zusammen bei „Winterzauber-Tee“ mit Honig, reden, lachen bisweilen sogar. Da sitzt er, sehr dünn. Große wache Augen hinter einer zu groß gewordenen dickrandigen Brille, jung und gleichzeitig greisenhaft wirkt er. Obwohl ich ihn nicht kenne, entsteht rasch ein recht klares Bild vor meinem inneren Auge, wie er vor seiner Erkrankung ausgesehen haben mag.
Viele Dinge höre ich an diesem Nachmittag über die Krankheit, seine kleine Tochter, die schnelle Hochzeit vor einer Woche, familiäre Konflikte, Verluste von Freunden und Lebensqualität. Ich höre Enttäuschung, Traurigkeit und Resignation, aber auch Positives. Auch sein feiner Humor schwingt manchmal mit. Er zeigt mir seinen Karton mit Medikamenten, zweifelt, ob es gut ist, so viel Chemie einzunehmen. Ich ermutige ihn, dass sicherlich alles gut ist, was sein Befinden verbessert. „Naja, es ist zwar sowieso nur noch zur Behandlung der Symptome, aber die Morphine sind schon klasse!“, sagt er. Seit der sie nähme, sei alles so viel besser geworden. Vor drei Wochen habe er noch gedacht, es sei zu Ende, er habe auch nicht mehr weitergekonnt. „Aber jetzt glaube ich, dass ich noch ein Weilchen durchhalte.“ Leise Hoffnung schwingt mit.
Dies ist meine erste Begleitung, ich spüre meine Unerfahrenheit ganz stark, versuche, mich auf die Gesprächsführung zu konzentrieren. Zurückhalten, Zuhören, nicht wertend kommentieren, so leicht und doch so sehr schwer in Anbetracht der besonderen Situation.
Ein Blick auf die Uhr: Zwei Stunden sind vergangen, die Zeit ist geflogen. Nach diesem Erstkontakt habe ich Herrn K. wöchentlich besucht und ihn bis zu seinem Tod begleitet.
Für ihn war ich, wie er es nannte, „die Frau für erbauliche Gespräche“. In den ersten Wochen sprachen wir viel miteinander im wahrsten Sinne des Wortes über „Gott und die Welt“. Mit zunehmender Schwäche trat die Bedeutung von Worten dann immer mehr in den Hintergrund und es wurde wichtiger, einfach DA zu sein, Körperkontakt zu halten. Die Besuche wurden ruhiger, leiser, bis hin zu langen, nonverbalen Begegnungen des am-Bett-Sitzens und Hände-Streichelns.
Es war ihm immens wichtig, sein Leben bis zum Ende unter Kontrolle zu behalten und in seiner vertrauten Umgebung bleiben zu können. Er und auch seine Mutter haben mich wissen lassen, dass sie meine Unterstützung und Zuwendung als sehr hilfreich empfunden haben.
Herr K. ist im Alter von 42 Jahren zu Hause gestorben – so, wie er es wollte.